Das ist eine Riesenchance

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Der Fachkräftemangel hat die Vierländerregion Bodensee längst erreicht, die Anziehungskraft der Metropolen bleibt gross. Was können Hochschulen, Unternehmen und Verwaltung tun, um für Talente attraktiv zu sein? Was erwartet die „Generation Corona“ von ihrem Job? Und wie sieht das Employer Branding der Zukunft aus? Der Wissenschaftsverbund bat vier Expert*innen zum Gespräch, darunter auch Eva De Salvatore.

Eva de Salvatore-Spaar ist Geschäftsführerin des Vereins <IT>rockt!, eines Zusammenschlusses von Unternehmen und Netzwerkpartnern aus der Informations- und Kommunikationstechnologien in der Ostschweiz.

Melissa Jäger ist Head of Group Human Resources bei der CHG-Meridian AG in Wein- garten. Zuvor war sie in gleicher Position bei der Rhomberg Sersa Rail in Bregenz tätig.

Markus Bürgler ist Leiter der Abteilung Arbeit beim Arbeitsmarkt Service Liechtenstein.

Gerd Winandi-Martin ist Leiter Career and Corporate Services der Universität St. Gallen.

Frau Jäger, wenn man als Personalmanagerin Hochschulabsolvent*innen für ein Unternehmen in der Bodenseeregion begeistern sollen, ist das denn ein Heimspiel oder eine harte Nuss?

Melissa Jäger: Immer mehr eine harte Nuss. Wir haben schon über die Generation Y und die Generation Z viel diskutiert und uns Gedanken gemacht, was wir Young Professionals bieten müssen. Aber in der Corona-Zeit hat sich im Recruiting nochmal viel getan.

Wie erleben Sie die „Generation Corona“?

Jäger: Die Motivation und die Erwartungen verändern sich. Es geht viel mehr um Themen des Umgangs, um Anerkennung von Leistung, auch um eine sichere Anstellung. Und natürlich um Flexibilität und Remote Work. Bei den Informatiker*innen wollen 85 Prozent nur noch remote arbeiten. Da sind die Unternehmen gerade wirklich gefragt, sich zu reflektieren und zum Teil auch neu aufzustellen — sowohl was Flexibilität, Führungskultur als auch Arbeitszeitmodelle betrifft.

Herr Winandi-Martin, den typischen Absolventen der Universität St.Gallen stellte man sich bisher eher jemanden vor, der als Consultant schnell Karriere machen will und dafür bereit ist, 80 Stunden in der Woche zu arbeiten und aus dem Koffer zu leben.

Gerd Winandi-Martin: Aber auch wir sehen eine Verschiebung in der Erwartungshaltung. Wir nutzen ein Tool namens „HSG Career Profiler“, über das wir mit Studierenden über ihre Interessen, Kompetenzen und Werte diskutieren. Als ich vor zehn Jahren an der Universität St.Gallen begann, war auf der Werteebene die Dimension „Leistung und Macht“ noch sehr stark ausgeprägt. Jetzt ist sie am schwächsten, die stärkste ist jetzt „Selbstbestimmung“. Der Karrierebegriff ist viel stärker inhaltlich und weniger hierarchisch geprägt.

Könnte dieser Wertewandel eine Chance für die Bodenseeregion sein?

Winandi-Martin: Definitiv. Zumindest unsere Studierende sehen die Region noch gar nicht als Wirtschafts-, sondern als Urlaubsregion. Gerade die Bedeutung der Work-Life-Balance könnte der Region in die Karten spielen. Ich weiss, wovon ich rede, ich komme aus Stein am Rhein, da habe ich es sehr genossen, in der Mittagpause joggen zu gehen. Und wenn es nicht mehr darum geht, seine Karriere bei einem Big Brand in der Grossstadt zu gestalten, werden die Unternehmen in unsere Region zusätzlich attraktiver. Auch das sehen wir bei unseren Absolvent*innen: Die gehen nach Zürich, kommen nach fünf, sechs Jahren aber zurück. Das alles ist eine Riesenchance — und dank der vielen Hochschulen gibt es auch ein Riesenpotenzial.

Aber auf der Stellenplattform Ihrer Universität findet man erstaunlich wenig heimische Unternehmen.

Winandi-Martin: Es herrscht da ein gewisses Mismatch: Unsere Studierenden befinden sich manchmal, überspitzt gesagt, in einer Art Bubble, und dort hört man von den immer gleichen Unternehmen, von UBS, Bain, McKinsey — alles super Unternehmen, aber über regionale Unternehmen höre ich ehrlich gesagt wenig. Auf der anderen haben die vielleicht auch zu viel „Respekt“, bei uns zu inserieren, weil sie glauben, dass eh keiner von unseren Studierenden dort hingeht. Und das glaube ich eben nicht.

Jäger: Ich kannte die Ausschreibungsplattform bisher nicht — was auch etwas darüber aussagt, wie wir uns in der Vierländerregion vermarkten und wie wir seitens der Hochschulen und Unternehmen zusammenarbeiten. Die Frage ist ja: Was sind die richtigen Rekrutierungskanäle für welche Positionen? Und gehe ich über Headhunter, die aber ihre Talente überall anbieten, oder versuche ich es auf der lokalen Ebene? Aber noch scheint es für unsere Region keine übergreifende Plattform oder Vermarktung zu geben.

Frau de Salvatore-Spaar, Sie kennen viele dieser Probleme vermutlich gut. Als sich der Verein <IT>rockt! 2013 gegründet hat, wussten wahrscheinlich nicht mal die Unternehmen in der Ostschweiz, dass sie mit inzwischen 2.000 Unternehmen das drittgrösste IT-Cluster des Landes bilden. Wissen sie es heute, und wissen es vor allem auch die Talente der Region?

De Salvatore-Spaar: Genau aufgrund dieser Vorurteile gibt es uns ja, und trotzdem wissen es vermutlich nach wie vor zu wenige. Bei uns ist vor allem der Industriesektor stark, wir können aber nicht mit Namen wie Google oder Microsoft punkten. Umso mehr ist es unsere Aufgabe, das Netzwerk zu stärken und etwa mit der Universität St.Gallen, den Fachhochschulen sowie den weiterführenden Schulen zu arbeiten. Unseren Verein kennt man darüber inzwischen wohl. Unternehmensseitig sehen wir aber ein fehlendes Employer Branding. Grosse Unternehmen Abraxas, Abacus oder Bühler haben die Chance, ihren Nachwuchs selbst auszubilden und dieses Branding zu betreiben, viele kleinere haben sie nicht. Oder sie sagen uns: Wir haben keine Zeit dafür. Aber wenn man, wie beschrieben, aus der Grossstadt zurückkommen will, dann erinnert man sich nur an das, was man vorher schon kannte.

Herr Bürgler, Sie können die Diskussion bislang mit einem gewissen Amüsement verfolgen. Das Fürstentum Liechtenstein ist höchstens das Problem der anderen. „Liechtenstein ist ein Jobwunder mit mehr Arbeitsplätzen als Einwohnern“ liest man auf der Webseite des Amts für Volkswirtschaft, mehr als die Hälfte aller Beschäftigten pendelt ein. Was machen Sie richtig? Ist es vor allem die gute Bezahlung?

Markus Bürgler: Liechtenstein hat durch seine Sonderrolle die Möglichkeit, sehr attraktive Arbeitsplätze mit internationalem Flair anzubieten — übrigens nicht nur im Finanzbereich. 40 Prozent unserer Wertschöpfung finden in der Industrie statt. Unternehmen wie Hilti, OC Oerlikon, Ivoclar und wie sie alle heissen haben in den 1990er-Jahren ihre Hausaufgaben gemacht und die EU und später den Weltmarkt für sich entdeckt. Mehr als die Hälfte der Einpendler*innen kommen übrigens aus der Schweiz. Klar ist aber auch: Wenn wir die Grenzgänger*innen nicht mehr hätten, hätten wir ganz schnell ein Problem.

Sind Sie denn ansonsten sorgenfrei, was die Versorgung mit qualifizierten Arbeitnehmern angeht?

Bürgler: Alles andere als das, das wäre auch völlig verwegen. Sämtliche Studien sagen ganz klar, dass wir ein Problem bekommen und selbst Fachkräfte ausbilden müssen. In Deutschland hat man das schon früher erkannt: Hier hat man 2018 das Qualifizierungschancen-Gesetz geschaffen — ein tolles Instrument. Aber es dauert Jahre, bis die Fachkräfteentwicklung sich kulturell so durchsetzt, dass sie eben auch beim Handwerker stattfindet und nicht nur im Grossunternehmen.

Frau de Salvatore Spaar, <IT>rockt! setzt diesbezüglich inzwischen ja noch vor dem Studium an. Warum?

De Salvatore-Spaar: Im Rahmen der IT-Bildungsoffensive haben wir zuerst die Plattform Matchd entwickelt, auf der wir Praktikant*innen und Unternehmen direkt vernetzen, rein auf der Basis von Skills und nicht aufgrund von Lebensläufen. Dabei sind wir auf ein Problem gestossen: In der Sekundarstufe 2 sind Lehrstellen in der IT auf Platz zwei auf der Beliebtheitsskala, aber im Kanton bieten wir nur 90 Lehrstellen pro Jahr an — ein Riesen-Gap. Bei den Kaufleuten sind es fast 600 Lehrstellen. Jetzt entwickeln wir ein Curriculum, das Unternehmen, die selbst nicht ausbilden können, und Quereinsteiger vernetzt. Nach einem Jahr Ausbildung ist es dann möglich, entweder zu bleiben oder eine Fachhochschule oder Universität zu besuchen.

Was kann man denn Unternehmen in Sachen Employer Branding raten?

Winandi-Martin: Punkt eins ist: Die Versprechungen, die ich mache, müssen eingehalten werden. Punkt zwei wurde gerade erwähnt: Unternehmen, die erklären, Employer Branding sei zwar wichtig, sie hätten aber keine Zeit dazu, sparen am falschen Ort. Es braucht nicht die Hochglanzbroschüre, aber eine Webseite mit dem, dass ich bieten kann. Und gerade die weniger bekannten Unternehmen müssen direkten Kontakt suchen. Die müssen an die Hochschulen, coole Cases bieten, die Studierenden challengen und mit ihnen anschliessend ins Gespräch kommen.

Frau Jäger, was macht Für Sie ein erfolgreiches Employer Brading aus?

Jäger: Die Authentizität, das Werteversprechen, die Führungskultur: Das dürfen alles keine Worthülsen sein. Ich finde es eine tolle Entwicklung, dass die Kandidat*innen wissen möchten, was sie erwartet. Früher wurde ich in Vorstellungsgesprächen nie gefragt, was mein Unternehmen beim Thema Nachhaltigkeit macht. Insgesamt haben die vergangenen Jahre das Employer Branding und Rekrutierungsprozess komplett durchgeschüttelt. Ganz, ganz viele HR-Abteilungen bauen das gerade vom Scratch her neu auf. Da kommt eine neue Ära auf uns zu. Das kann eine riesige Chance sein.

Winandi-Martin: Der Trend wird zu kleineren, persönlicheren Veranstaltungen gehen. Ein Beispiel von uns: Wir geben den Unternehmen die Möglichkeit, mit einem kleinen Kreis von acht Studierenden in einen Escape Room zu gehen: Das ist ein moderner Workshop — ich sehe ganz spielerisch, wie die Studierenden agieren und interagieren, danach gibt es einen Apéro. So werden die Events der Zukunft aussehen.

Gehört zu den neuen Ansätzen auch, mehr Miteinander zu wagen, um der Sogkraft der Metropolen etwas entgegenzusetzen? Oder ist das Konkurrenzdenken dann doch zu stark?

Jäger: Ich nehme die Vierländerregion im Vergleich zu anderen als sehr bescheiden wahr. Die Haltung ist eher: Bloss nichts falsch machen. Ein Unternehmen wie Sixt kennt dank seiner frechen Werbung jeder — warum traut sich das bei uns keiner?

De Salvatore Spaar: Es wäre natürlich wünschenswert, wenn wir mehr zusammenarbeiten würden. Wir hören auch immer wieder kritische Stimmen von potenziellen Mitgliedern, die Angst vor der Konkurrenz haben und dass ihnen bei gemeinsamen Veranstaltungen Kandidat*innen streitig gemacht werden. Grenzüberschreitend ist das noch schwieriger. Das ist die grösste Herausforderung.

Bürgler: Wir müssen uns auf die Stärken besinnen und nicht auf die Schwächen. Mich nervt es ehrlich gesagt, dass wir uns ständig mit Zürich vergleichen. Aber wer sind wir denn? Haben wir uns auch damit auseinandergesetzt, wer wir sind und was wir können? Eine Stärke, die wir ausspielen sollten, liegt in der mittelständischen Struktur. Grosse Unternehmen haben häufig auch schwerfällige HR-Apparate. Wir sollten uns bemühen, schneller zu sein und dann mutige Entscheidungen zu treffen.

Winandi-Martin: Und persönlicher zu sein. Und zum Thema der Konkurrenz: Da müssen Unternehmen umdenken. Wenn wir in der Region mal ein gemeinsames Event auf die Beine stellen würden, dass sich gewaschen hat, würden alle profitieren.

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